Das letzte Wochenende vor meiner Abreise aus Kapstadt verbrachte ich am südlichsten Punkt von Afrika – dort, wo indischer und atlantischer Ozeans ineinander fließen. Zu sehen war diese von Menschen gemachte Grenze nicht.
Es ist ein besonderes Gefühl, dort zu stehen, wo es im Süden nichts anderes als den Südpol gibt. Praktisch dort, wo die Zivilisation, wie wir sie kennen, aufhört, und das auf einem Kontinent, wo die Menschheit geboren wurde. Ich dachte an meinen Vater, der es leider nie nach Afrika geschafft hatte und fragte mich, wie er sich wohl an dieser Stelle gefühlt hätte, zwischen den gefalteten Felsen und wilden Wellen. An der Grenze dessen, was er kannte. Er hatte seine Vorstellungen davon, was er im Leben sehen wollte. Das Taj Mahal war ihm dabei weniger wichtig als Görlitz im Osten Deutschlands, das er leider nicht mehr besuchen konnte. Wir haben alle unsere Tagträume, die einen sind weiter, die anderen enger gefasst.
Je älter ich werde, umso kürzer wird die Liste der Orte, die ich sehen möchte. Glücklicherweise ist mein Leben überreich an wunderbaren Erfahrungen an magischen Plätze. Und manchmal erwische ich mich, dass ich wie mein Vater Grenzen zu ziehen beginne. Aufhöre, nach etwas zu streben, was ich noch nicht gesehen habe. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass ich glaube, dass das Zukünftige das Gewesene nicht mehr toppen kann. Und das mag ein Fehler sein.
Am Cap Aghulas fand ich nicht viel mehr als Felsen und Wellen, und doch war es der konsequente Abschluss meiner vielen Wochen in Afrika. Nach den Reisen durch die verschiedensten Länder dieses Kontinents hatte ich das Gefühl, an dessen Ende angekommen zu sein. Alles gesehen zu haben, was mir zu erleben bestimmt ist jenseits des Mittelmeeres. Natürlich möchte ich noch einmal den Versuch starten, Sansibar zu besuchen, und auch Marokko steht nach wie vor auf meiner Liste. Doch am Cap zu stehen, war ein kleiner Abschied von Afrika. Weil es das Maximum für mich war.
Es gibt in Europa Städte, wo zwei Flüsse ineinander fließen und man genau sieht, wo sie aufeinander treffen. Am südlichsten Punkt Afrikas gab es diese Grenze nicht. Atlantik und Indischer Ozean waren eins, egal welche Linie Menschen gezogen hatten. Und wie es mit dem Wasser ist, geht es oft auch Völkern, die durch willkürliche Grenzziehungen irritiert wurden – in ihrer Identität, in ihrem Verständnis von Miteinander. Weil es für sie keinen Grund gibt, etwas zu trennen, was für sie immer zusammen gehört hat. Grenzen provozieren immer.
Manchmal sind sie notwendig, zugegeben, vor allem wenn es um den persönlichen Umgang miteinander geht. Was der eine mag, darf dem anderen missfallen. Darauf darf hingewiesen werden. Wenn mein Mann mit 80 km/h über eine Schotterpiste brettert, darf ich ihm meine Grenzen aufzeigen. Wenn ich ihn mit meinen Trigger-Geschichten zumülle, darf auch er auf seine Grenzen hinweisen. Das ändert am großen Ganzen, nämlich der Liebe, nicht das geringste.
Grenzen sind dann gut, wenn sie mehr möglich machen. Wenn sich Menschen dadurch näher kommen. Wenn der Ozean eine ganz spezielle Farbe bekommt. Wenn man durch das Nachdenken über Grenzen drauf kommt, dass man sie sehr häufig ganz zwanglos übertreten kann. Denn manchmal sind es gar nicht die eigenen Grenzen, die man einhält, sondern die von anderen, von Traditionen, Familiennarrativen, Konventionen. In diesem Sinne werde ich wohl noch einmal darüber nachdenken, ob das Zukünftige nicht doch aufregender sein kann als das Vergangene. Und es schlussendlich auch ausprobieren. Ich kenne mich gut genug, dass ich weiß: Ich werde gar nicht anders können.
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