Ach, ich mag den Herbst – auch wenn mein Kühlschrank vor Trauben, Zwetschgen und Äpfeln überquillt. Ja, Erntezeit ist eine fruchtbare Zeit, und langsam beginnt auch das vorsichtige Ernten aus den Jahressaaten im Leben.
Vor einiger Zeit habe ich mir ein Sechs-Minuten-Tagebuch angeschafft. Nicht dass ich ungern Tagebuch schreiben würde; manchmal denke ich mehr oder weniger laut darüber nach, wohin ich mit den bisher angefüllten Schreibheften soll, die sich über die Jahrzehnte angesammelt haben und die sowieso niemand lesen wird, weil unleserlich für 99,9 Prozent der Bevölkerung. Ich denke, nicht einmal die Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien käme durch den Schlaufendschungel durch. Andererseits: man wächst mit den Herausforderungen, auch so eine Sammlung. Doch das ist ein anderes Thema.
Das Sechs-Minuten-Tagebuch ist im Grunde ein Achtsamkeits- und Dankbarkeitsbuch, bei dem man sich morgens und abends drei Minuten hinsetzt und reflektiert. Es werden einem immer die gleichen Fragen gestellt, die man je nach Tagesverfassung möglichst konkret beantworten soll. Einmal in der Woche blickt man auf dieselbe, monatlich ebenfalls. Dabei geht es um Wünsche, Hoffnungen, aber eben auch sehr viel um Zufriedenheit aus Erreichtem. Während dieses Sommers habe ich dieses Gefühl sehr oft beim Blick aus dem Fenster empfunden, wenn nach einem Regenguss das Grün geblitzt und einen so wunderbaren Kontrast zum sommerblauen Himmel gebildet hat. Ich verspürte diese Morgenruhe bei den Klängen zur Sufi-Musik, beim Schnurren der Katze, beim ersten Schluck Kaffee. Keine spektakulären Dinge finden sich auf diesen Ausfüllseiten, die immer einen Satz beinhalteten: „Alles ist gut.“
Ein altes Sprichwort sagt, dass Übung den Meister macht – und das trifft auch auf die Dankbarkeit und Achtsamkeit zu. Wenn man derartig offen für Unerwartetes ist wie ich, dann kommt diese Übung im ganz normalen Alltag oft zu kurz. Denn gerade dann, wenn man mit einer Meditation beginnen will, läutet das Telefon oder es bingt am Handy oder mein kleiner Nachbar steht auf der Veranda seines Holzhauses und ruft nach einem Eis. Jetzt könnten Sie zu Recht sagen, dass ich ja endlich das Wörtchen „Nein“ lernen könnte. Und ganz unrecht hätten Sie damit auch gar nicht – schließlich kann ich nicht überall sein, muss hin und wieder auch schlafen oder essen. Andererseits: „Live happens while we’re busy making other plans.“
Mein Ex sagt immer, dass ich endlich zur Ruhe kommen sollte. Denn dieses Leben, dass ich seit unserer räumlichen und erotischen Trennung führe, macht ihn total kirre. Er hält schon die Sufi-Musik nicht aus, doch wahrscheinlich deshalb, weil er kein Bauchtänzer ist. Die Beschäftigung mit dem Orient öffnet eben auch andere Klangwelten. Ich im Gegensatz hab’s nicht so mit Chorälen, aber ansonsten verstehen wir uns auch nach 23 Jahren so gut, dass die Kinder unbeschwert Zeit mit uns beiden verbringen können.
Sie merken, ich schweife ab. Das ist allerdings symptomatisch für mein Dasein. Ich springe von einem Thema zum anderen, weil für mich alles in alles fließt. Weil ich das Gefühl habe, dass es wenig Trennung gibt zwischen den einzelnen Ebenen meines Daseins. Deshalb kann ich beispielsweise auch nie genau sagen, wie viel ich an einem Tag gearbeitet habe. Denn wenn ich schreibe, kann es sein, dass ich währenddessen Hunger bekomme und kochen gehe. Danach setze ich mich an den Teich zu einem Verdauungsrülpserchen und schreibe anschließend weiter. Oder ich gehe in den Garten, wühle in der Erde und dabei kommt mir ein Gedanke, den ich schriftlich festhalten möchte. Oder ich fahre zum See und nehme Arbeit mit.
In meinem Sechs-Minuten-Tagebuch steht fast täglich, dass ich mir selbst mehr Achtsamkeit schenken möchte. Das betrifft mein Hungergefühl ebenso wie Müdigkeit, wenn sie unmittelbar auftritt oder Energielosigkeit, die sich oft in Frieren äußert. Und dass ich das öfter als bisher in meinem Leben schaffe, ist für mich eine Ernte dieses Jahres. Auch, dass ich es zu 90 Prozent zu Wege bringe, mir selbst und nur mir den Sonntag zu schenken. Meine Trafikantin meinte, sie würde diese Tage spontan planen. Doch das funktioniert bei mir nicht. Ich muss mir proaktiv Zeit für mich selbst nehmen – so steht es auch in meinem Sechs-Minuten-Tagebuch. Nur so klappt es bei mir.
Am kommenden Sonntag werde ich meinen Claudia-Tag auf einem Schiff verbringen und schauen, ob ich dort auch bei mir sein kann. Wasser hat ja die wunderbare Wirkung auf mich, dass ich sehr gut loslassen kann. Oder vielleicht auch weitere Ernteerkenntnisse sammeln werde – who knows? Schwierig wird es, wenn mich jemand anspricht. Da „Nein“ zu sagen und ein abweisendes Gesicht zu machen, fällt mir schwer. Doch hey, selbst das wird einen tieferen Sinn haben, der mein Leben bereichern kann. Und der nächste Claudia-Tag kommt bestimmt.