Vor ein paar Tagen hatte ich wieder einmal das Glück, Zeit mit meinem Jüngsten zu verbringen. Und wie das so ist, wenn Generationen aufeinandertreffen: Die eine oder andere Erkenntnis springt dann doch dabei heraus. Für mich.
Wir haben da diese Tradition, mein Jüngster und ich. Seit 15 Jahren gehen wir zu den Festspielen, meist zu Konzerten. Einmal hat es uns zu einem Ballettabend verschlagen, einmal zu einem Theaterstück. Und immer war es ein Erlebnis, das Jahre später noch nachklingt. Zum Beispiel mein rosaroter Hosenanzug (nein, nicht pink!), in dem ich steckte, als der Zehnjährige erstmals Festspielluft schnupperte. Und den Alkohol in den Pralinen, mit denen ich ihn gelockt hatte und auf denen er heute noch besteht, auch wenn er den Alkohol darin nicht mehr wahrnimmt. Haben wir eben erst gecheckt, auch seine Freundin. Auf die ging übrigens die Festspieltradition über, sowohl was den Besuch als auch das gemeinsame Essen und die speziellen Pralinen angeht. Schließlich sind Traditionen dazu da, weitergegeben zu werden.
Tradition hat eben in diesem Kontext auch das ausführliche, manchmal durchaus kontroversielle Gespräch, in dem kein Thema ausgespart bleibt. Und auch wenn mein Jüngster und ich zeitgleich pubertiert und menopausiert und damit ähnliche Symptome miteinander geteilt haben, stellt sich doch heraus: In manchen Dingen gibt es unterschiedliche Ansichten. Jetzt könnte man es so wie mein Vater machen, der meine diversen, abweichenden Ansichten mit einem inneren Augenrollen bedenkt und weitermacht, wie er es für richtig hält. Oder man nimmt Impulse von außen zum Anlass, eigene Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Und das habe ich getan, nachdem er mich in seiner erwachsenen, aber immer noch sommersprossig-blauäugigen Art gefragt hat: „Glaubst Du nicht, dass Du es nach 55 Jahren mit dem Rebellieren auch mal gut sein lassen kannst?“
In einer ersten Reaktion wurde ich natürlich noch rebellischer und habe mich innerlich gefragt, was denn so schlecht daran sein sollte, Ansichten auch jenseits des Mainstreams zu haben und zu kultivieren. Äußerlich habe ich vom Thema abgelenkt, um mir Gedankenzeit zu geben. Und für den Rest des Abends den Boden für andere Gespräche zu bereiten. Die dann auch stattfanden und mein Dasein wie immer bereichert haben. Wieder alleine, nutzte ich die Gedankenzeit, die ich mir verschafft hatte, um mein Rebellentum zu überdenken. Die Argumente auf einen Zettel zu schreiben und mich nochmal so richtig hineinfallen zu lassen. Und mich von der emotionalen Richtigkeit meiner Aufmüpfigkeit zu überzeugen. Nach einer Viertelstunde begann ich, einige dieser Argumente, die in einem größeren Rahmen als meiner emotionalen Welt angesiedelt waren, zu recherchieren. Und siehe da: Einige Fakten hatten sich tatsächlich geändert – in meine Richtung. Ich würde jetzt nicht soweit gehen, dass mein ständiges Anbeten gegen den Mainstreams endlich vom Universum zu den Verantwortlichen getragen wurde. Doch waren die geänderten Umstände dann doch ein Zeichen dafür, dass ich mit meiner Denke nicht ganz alleine war. Um die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen: Ich habe meine Entscheidung adaptiert.
Kurz darauf bin ich zu Gast bei einer meiner „Voll50“-Frauen, die ich für den gleichnamigen Blog im 14-Tage-Rhythmus interviewte. Eine großartige, kecke und warmherzige Frau, die ganz viel von Rebellentum hält, vor allem mit zunehmendem Alter. Auch ich beobachte das an mir, dass der Widerspruchsgeist tatsächlich zunimmt, je mehr Jahre ich ansammle. Und ich werde unduldsamer, wie meine „Voll50“-Frau auch. Nicht unbedingt darin, dass wir keine andere Meinung gelten lassen, weil wir nur noch unsere eigene Hexensuppe kochen wollen. Sondern vielmehr insofern, dass wir schlechtes Benehmen nicht mehr zu tolerieren gedenken. Wir haben genaue Vorstellungen, wie ein Gespräch zu verlaufen hat, unabhängig vom Inhalt, über den wir gerne reden. Wir haben genaue Vorstellungen, wie man miteinander umgeht, vor allem zwischen den Geschlechtern. Entspricht jemand nicht diesen Vorgaben, wird der Abstand zwischen „Hi“ und „Bye“ immer kürzer.
Diese Rebellion kann mir niemand nehmen, auch nicht mein Jüngster. Die Zeit ist zu kostbar, um sie mit trashigen Angelegenheiten zu verbringen. Doch wenn man feststellt, dass die eigene Argumentationswelt trashy geworden ist, muss man das eben ändern. An einer Meinung festzuhalten, nur weil sie Jahrzehnte überdauert hat, gibt ihr nicht die Berechtigung, auch den Rest der Lebenszeit gelten zu dürfen. Überzeugungen sind gut, doch sie können sich ändern, vor allem in einer Welt, wo sich das Wissen innerhalb eines Jahres verdoppelt. Manchmal sogar schneller. Zum richtigen Zeitpunkt daran zu schrauben, ist ein Luxus, den man sich unbedingt leisten sollte.